Gute Pute? - Grenzenloses Tierwohl-Problem

von Paul Christian Jezek 20/05/2020
Warengruppen
Fleisch
Gute Pute? - Grenzenloses Tierwohl-Problem

Ein Blick zum „großen Nachbarn“ Deutschland beweist: Die industrielle Tierhaltung führt auch dort zu großen Gefahren – gerade in Krisen-Zeiten wie diesen

 

„Investigativ, spannend, hintergründig“ will das deutsche TV-Format ZDFzoom laut Eigenbeschreibung sein – und blickte vorige Woche mit dem Film von Katarina Schickling, „Gute Pute?“ hinter die Kulissen der Geflügelindustrie. Demnach ass Anfang der 80er Jahre der durchschnittliche Westdeutsche 1,6 Kilo Pute im Jahr, heute sind es mehr als 6 Kilo. Weltweit essen nur die US-Amerikaner und die Franzosen noch mehr. Zur Erfolgsgeschichte trägt auch der niedrige Preis bei: 5,99 Euro kostet das Kilo Putenschnitzel im deutschen Handel. Das funktioniert, weil bestimmte Putenrassen in besonders drastischer Weise für die modernen Konsumbedürfnisse gezüchtet worden sind. 24 kg Schlachtgewicht in 22 Wochen Lebenszeit erreicht ein konventioneller Mastputer. Zweieinhalb der großen Tiere teilen sich am Ende der Mast einen Quadratmeter Stallfläche. Veterinärin Miriam Goldschalt vom Deutschen Tierschutzbund sieht hier den Gesetzgeber in der Pflicht: „Es gibt keine rechtlich bindenden, gesetzlichen Vorschriften für die spezielle Putenhaltung. Das Einzige, was existiert, ist eine freiwillige Vereinbarung, die sogenannten bundeseinheitlichen Eckwerte für die konventionelle Putenhaltung. Aber leider orientieren sich diese Eckwerte weitgehend an der Industrie und an der bestehenden Praxis. Wir würden uns wünschen, dass man nicht die Tiere an das Haltungssystem anpasst, sondern das System an die Bedürfnisse der Puten.“ Dieses System verursacht viele Probleme – für die Gesundheit der Tiere, aber auch für die Menschen.

 

Denn laut Monitoring der Bundesregierung werden in der Putenmast besonders großflächig Antibiotika eingesetzt. Trotz der Forderung, mit Blick auf die zunehmenden Resistenzen deren Einsatz zu verringern, gelingt das bei Puten kaum – die hochgezüchteten Fleischlieferanten neigen zu Darmproblemen und Durchfall. Erkrankt ein Tier in einem typischen konventionellen Stall, müssen mehrere tausend Tiere auf einmal behandelt werden. „Der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast ist definitiv ein wichtiger Grund für die Entstehung von antibiotikaresistenten Keimen. Und wahrscheinlich auch einer der Hauptgründe.“ Mikrobiologin Professor Katarina Schaufler von der Uni Greifswald hat für ZDFzoom 63 Putenfleischproben auf resistente Keime untersucht. Mit erschreckenden Resultaten: auf 62 Prozent der konventionellen Proben gab es antibiotika-resistente Keime, bei Bio-Puten waren es immer noch 25 Prozent. „Wenn Sie zum Beispiel gewisse Hygienemaßnahmen in der Küche nicht beachten, können Sie als Verbraucher sich mit diesen Keimen auf dem Fleisch anstecken.“ Mehr als ein Drittel aller Proben war mit Keimen belastet, die auch gegen sogenannte Reserveantibiotika resistent sind – Medikamente, die eigentlich schwerstkranken Menschen vorbehalten sein sollten. Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ein Problem: Fast alle Covid19-Patienten in Krankenhäusern leiden an bakteriellen Superinfektionen und werden mit Antibiotika behandelt.

Doch auch die Tiere leiden: Kupierte Schnäbel, Fehlstellungen der Beine, intensiver Antibiotika-Einsatz: Alltag, selbst in Vorzeigeställen. Dabei ist gerade das Kürzen der Schnäbel im Tierschutzgesetz als Amputation eigentlich verboten und nur mit Sondergenehmigung möglich – doch die wird routinemäßig erteilt. Shana Bergmann, Veterinärin an der Ludwig-Maximilian-Universität München, sieht das kritisch: „Wir amputieren beim Schnabel ein Organ, das für das Tier sehr wichtig ist, das sogenannte Schnabelspitzenorgan, das wir gänzlich zerstören. Damit zerstören wir Gewebe und das ist durchaus schmerzhaft.“

Germanwatch warnt

Die Resultate von ZDFzoom decken sich weitgehend mit von der deutschen Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation Germanwatch vor einem Jahr in Auftrag gegebenen Stichproben, bei denen auf 56 Prozent der Hähnchenfleischproben aus Discountern resistente Erreger gefunden wurden. Ein Drittel der kontaminierten Proben war  resistent gegen Reserveantibiotika – Germanwatch fordert deshalb von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die Nutzung von Reserveantibiotika in der industriellen Tierhaltung umgehend zu stoppen. „Die globale Krise infolge von Covid-19 führt uns vor Augen, welche dramatischen Auswirkungen es hat, wenn wirksame Medikamente für erkrankte Menschen fehlen. Mit der Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen steuern wir sehenden Auges darauf zu, dass sich der Medizinschrank der Welt leert und wir riskieren, dass Antibiotika etwa bei Wundinfektionen oder Lungenentzündungen künftig in immer mehr Fällen nicht mehr wirken", warnt Reinhild Benning, Referentin für Landwirtschaft und Tierhaltung bei Germanwatch.

In Deutschland wurden 2018 mit 722 Tonnen mehr Antibiotika in der Fleisch- und Milcherzeugung verbraucht als zur Behandlung erkrankter Menschen! Germanwatch forderte deshalb die deutsche Bundesregierung auf, den besonders hohen Antibiotikaverbrauch in der industriellen Hähnchen- und Putenerzeugung drastisch zu verringern und Reserveantibiotika aus industriellen Tierhaltungen umgehend zu verbannen. Benning: „Die von der Regierung geplante Reduktion des Antibiotikaverbrauchs stockt seit geraumer Zeit. Gerade angesichts der zusätzlichen Herausforderungen in der Corona-Krise ist ist der Erhalt wirksamer Antibiotika aber wichtiger denn je. Die Tierhaltungsbranche hat im Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung unter Vorsitz des ehemaligen CDU-Landwirtschaftsministers Jochen Borchert gemeinsam mit Umwelt- und Tierschutzverbänden Empfehlungen für den schrittweisen Ausstieg aus der industriellen Tierhaltung erarbeitet. Damit liegt ein Fahrplan für den Umbau der Tierhaltung vor. Wer die dazu notwendigen gesetzlichen Verbesserungen für Tierschutz und gegen Antibiotikamissbrauch aufschiebt, riskiert die Zukunftsfähigkeit der deutschen Tierhaltung und billigt die Zunahme der Gesundheitsrisiken für Mensch und Tier durch multiresistente Erreger.“